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Nachdenken über Führung – Teil 3 Part2


Sind Unternehmen Familien, Gemeinschaften, Clans? – Teil2

Welche Auswirkungen hat es, wenn sich Unternehmen als Familie und/oder Gemeinschaft selbstbeschreiben? Vorteile, Nachteile und Paradoxien

Inhaltsverzeichnis

  1. Einleitung
  2. Wozu beschreiben sich Unternehmen selbst als Gemeinschaft und/oder Familie?
  3. Unterschiede zwischen Familie und Wirtschaftsunternehmen aus systemischer Perspektive
  4. Vorteile, Nachteile und Paradoxien der Selbstbeschreibung von Unternehmen als Gemeinschaft und/oder Familie
    4.1 Bindungen und Commitment
    4.2 Kündigung und Leistung
    4.3 Konfliktniveau
  5. Chancen und Risiken für Mitarbeitende aus psychodynamischer Perspektive
  6. Fazit

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Immer mehr Unternehmen betonen in ihrer Selbstbeschreibung den Gemeinschafts- und oder Familienaspekt, das heißt. Unternehmen projizieren sich als Gemeinschaft aller Mitarbeitenden, also über alle Hierarchien hinweg (vgl. Fuchs, 2014, S. 1; Sommer, 2022, online). Das Ziel dieser Selbstbeschreibung besteht darin, die Organisationsmitglieder zu vereinen und ihnen ein Zugehörigkeitsgefühl zu vermitteln, was auch Einfluss auf operative Funktionen haben kann (vgl. Tomenendal & Goldkamp, 2013, S. 10): „Du bist hier Teil einer Gemeinschaft, wir kümmern uns um dich“ (Sommer, 2022, online). Doch die Familienkommunikation unterscheidet sich in mehreren Punkten deutlich von der Kommunikation in Organisationen (vgl. Klett, 2009, S. 101-104).

Deshalb wird in dieser Arbeit folgende Forschungsfrage untersucht: Welche Auswirkungen hat es, wenn sich Unternehmen als Familie und/oder Gemeinschaft selbstbeschreiben? Die Beantwortung der Forschungsfrage erfolgt sowohl aus systemischer als auch aus psychodynamischer Perspektive.

Zunächst wird im nachfolgenden Kapitel kurz erläutert, warum Unternehmen diese Selbstbeschreibung wählen. Danach wird in Kapitel 3 auf die wesentlichen Unterschiede zwischen der Familie und den Wirtschaftsunternehmen eingegangen. Danach werden in Kapitel 4 einige Vorteile, Nachteile und Paradoxien diskutiert, nämlich Bindungen und Commitment, Kündigung sowie Konfliktniveau. Mögliche Chancen und Risiken aus psychodynamischer Perspektive werden in Kapitel 5 erörtert. Die Arbeit schließt mit einem Fazit in Kapitel 6.

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2. Wozu beschreiben sich Unternehmen selbst als Gemeinschaft und/oder Familie?

Ergänzend zu den Ausführungen aus der Einleitung schaffen organisationale Selbstbeschreibungen hierarchieübergreifend eine gemeinsame Basis für alle Organisationsmitglieder und sie setzen oftmals eine gesellschaftliche Vision um, was den Daseinsgrund des Unternehmens verdeutlicht (Tomenendal & Goldkamp, 2013, S. 21). Etwas zugespitzt formuliert kann an dieser Stelle danach gefragt werden, warum dafür ausgerechnet die Gemeinschaft und/oder Familie herhalten muss.

Im Zeitalter von erodierenden sozialen Strukturen und Bindungen werden zunehmend Menschen davon angesprochen, wenn sie in der Arbeitswelt persönlich in eine enge Gemeinschaft eingebunden werden (vgl. Sommer, 2022, online). Was viele in ihrem Privatleben nicht (mehr) haben, erhalten sie nun am Arbeitsplatz.

Die Leistungsfähigkeit von Organisationen nimmt mit anwachsender Anzahl ihrer Mitglieder zu, weil sich die Wissensbasis und die Datentransformationsfähigkeit verbreitern. Gleichzeitig aber steigen auch der Koordinationsaufwand und die Interdependenzen überproportional an, was dazu führt, dass für die Koordination der Leistungserstellung immer mehr von der Datentransformationskapazität benötigt wird. Hinzu kommen negative Auswirkungen auf das Verhalten und die Interaktion der handelnden Mitglieder (vgl. Schäffer, 1998, S. 18-19).

Tomenendal und Goldkamp (2013, S. 21) zeigen anhand ihrer Beobachtungen von jungen Unternehmen, dass die Selbstbeschreibungen von Unternehmen stark gekoppelt sind an die produzierten Güter bzw. an das das Spezialwissen, welches als Dienstleistung angeboten wird. Dagegen scheint der explizite Gebrauch der Familiensemantik weniger auf den Unternehmenszweck als vielmehr auf die interne Kommunikation und die damit zusammenhängende Organisationskultur gerichtet zu sein.

Denkbar ist daher, dass sich Unternehmen der Familiensemantik annehmen, um im Zuge der Schaffung eines Purpose das sinnhafte Handeln zu steigern, also der Erwerbsarbeit einen höheren Sinn zuzuschreiben. Denn durch die Selbstbeschreibung als Gemeinschaft und/oder Familie wird der Purpose eines Teams von Menschen geschaffen, die ein geteiltes Wertesystem und einen übergeordneten Unternehmenszweck besitzen. Sich als Familie zu begreifen, bietet somit zunächst einen Orientierungspunkt, weil eine gemeinsam geteilte soziale Identität geschaffen wird, die auf Zusammenhalt und Kohärenz abzielt. Somit fungiert die Selbstbeschreibung als Gemeinschaft und/oder Familie als Handlungsstrategie, weil mit dem Familienbegriff – wie eingangs des Kapitels ausgeführt – bestimmte Dinge assoziiert werden (vgl. Krügl, 2022, S. 253-255).

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3. Unterschiede zwischen Familie und Wirtschaftsunternehmen aus systemischer Perspektive

Mit Beginn des 21. Jahrhunderts handelt es sich bei Familien und Wirtschaftsunternehmen um zwei unterschiedliche soziale Systeme mit jeweils abweichenden Regeln (vgl. Schmidt, 2016, online). Von Schlippe (2009, S. 56) verweist darauf, dass in der Familie eine andere Form der Gerechtigkeit praktiziert wird als im Unternehmen, weil dort die Funktionalität von Entscheidungen danach bewertet wird, wie Unsicherheit und Risiko optimal absorbiert werden können. In einem solchen aufgabenorientierten System gilt als gerecht, wer den meisten Einfluss hat, und am höchsten bezahlt wird, wer die höchste Qualifikation aufweist, wer die größte Leistung vollbringt und wer die Entscheidungen trifft, die am überlebensfähigsten sind. Demgegenüber handelt es sich bei der Familie um ein beziehungs- und bindungsorientiertes System, welches an einem verhältnismäßig abstrakten Gerechtigkeitsprinzip orientiert ist, bei dem Familienmitglieder als (ganze) Person berücksichtigt werden. Die Loyalitätsanforderungen sind von vornherein wirksam, weil allen bekannt. Daraus ergeben sich zahlreiche Verpflichtungen (vgl. von Schlippe, 2009, S. 56).

Zu diesen Verpflichtungen bzw. Grundmerkmalen der Familienkommunikation gehört die enthemmte Kommunikation im Sinne der wechselseitigen Zuweisung von Höchstrelevanz, das heißt, prinzipiell alles kann zum Thema gemacht werden, weil es – anders als beispielsweise die Wirtschaft für Unternehmen – keine gesellschaftliche Referenz gibt. Allerdings bedeutet dies nicht, dass in Familien tatsächlich alles zum Thema gemacht wird, sondern in jeder Familie werden Themenkarrieren und Tabus hochselektiv ausdifferenziert. Aus der Höchstrelevanz ergibt sich aber in der Familie die obligatorische Forderung, dass sich alle ihre Mitglieder zu lieben haben. Weil dies nicht unentwegt möglich ist, entstehen psychische Notwendigkeiten des Schweigens. Distanzierte und nüchterne Kommunikation ist aber unter den geschilderten Umständen nicht möglich, weshalb alle verbalen wie nonverbalen Äußerungen als Mitteilungsselektion definiert werden können. Vor dem Körper verschränkte Arme und Mit-den-Augen-rollen werden dann schnell „als Entscheidung gegen das Erfordernis der Markierung von Höchstrelevanz, gegen das WIR der Familie“ (Fuchs, 2014, S. 4) aufgefasst (vgl. Fuchs, 2014, S. 4; Klett, 2009, S. 101-102).

Des Weiteren besteht in der Familie Interesse an der Vollperson, wohingegen sich Organisationen nur selektiv für ihre Mitglieder interessieren. Deshalb sind Unternehmen im Regelfall nur an solchen Kriterien oder Merkmalen (Fähigkeiten und Kompetenzen) einer Person interessiert, die für die jeweils zu erledigende Erwerbsarbeit relevant sind. In der Familie dagegen wird das gesamte Verhalten einer Person behandelt, erlebt, sichtbar gemacht, überwacht, betreut und gestützt. Zudem besteht in der Familie ein Gedächtnis über große Zeiträume, weil frühere Erlebnisse in Bezug auf das situationsspezifische Verhalten von Familienmitgliedern Orientierungspunkte bieten. Immer wieder erzählte Geschichten und Anekdoten spielen hierfür eine wichtige Rolle, woraus sich letztlich ein übergenerationales Repertoire an Glücksmomenten, Ernüchterungen und Erfahrungen bildet. Familien zeichnen sich zudem – anders als Wirtschaftsunternehmen, wie eingangs des Kapitels ausgeführt wurde – durch eine Gleichbehandlungserwartung aus. Vor dem Hintergrund dieser Norm wird zwar alles an die Kinder verteilt, was diese sich von ihren Eltern erwarten können, doch bedeutet dies keinesfalls eine gleiche Behandlung aller Kinder. In der Familie ist es eher problematisch, wenn nicht gar unmöglich, alle Familienmitglieder gleich zu behandeln, was vor allem am Beispiel des Erbes evident ist. Wohl aber ist das Vorhandensein einer Ungleichbehandlung ein (legitimer) Anlass, um protestierenderweise Korrekturen und Ausgleiche zu fordern. Unberührt davon bleiben aber die Loyalitätsanforderungen. Demgegenüber wird in Wirtschaftsunternehmen nicht verlangt, dass alle Beschäftigten gleich behandelt werden sollen, weil sie zu unterschiedlich sind. Anders als in der Familie müssen sich Beschäftigte in ihren Firmen nicht dafür rechtfertigen, wenn sie aufgrund eines höheren Bildungsabschlusses einen Einkommensanstieg erfahren (vgl. Klett, 2009, S. 101-103; von Schlippe, 2009, S. 56).

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4. Vorteile, Nachteile und Paradoxien der Selbstbeschreibung von Unternehmen als Gemeinschaft und/oder Familie

Die bisherigen Ausführungen verdeutlichten die Differenz zwischen Familie und Wirtschaftsunternehmen. Vor dem Hintergrund der in Kapitel 2 aufgeführten Beweggründe von Unternehmen, sich ungeachtet der aufgeführten Unterschiede als Gemeinschaft und/oder Familie selbst zu beschreiben, werden in diesem Kapitel die Auswirkungen davon diskutiert.

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4.1 Bindungen und Commitment

Commitment „setzt eine starke Übereinstimmung der Ziele des Handlungsträgers mit den Zielen des Unternehmens voraus“ (Schäffer, 1998, S. 22), das heißt, es besteht eine aktive Komponente und nicht bloß ein hohes Maß an Solidarität. Die Schwierigkeit für Unternehmen im Allgemeinen und für Führungskräfte im Besonderen besteht darin, dass Commitment nicht durch Weisung erzeugt werden kann, sondern es lassen sich lediglich günstige Voraussetzungen schaffen, wozu die Kultivierung eines Commitment-freundlichen Organisationsklimas gehört (vgl. Schäffer, 1998, S. 22-23).

Den Familienbegriff für die (Selbst-)Beschreibung von Wirtschaftsunternehmen zu nutzen, kann das Commitment der Beschäftigten erhöhen, sofern diese dies als angenehmes Organisationsklima empfinden. Wer dagegen mit Familie eher die negativen Aspekte assoziiert – enthemmte Kommunikation, geringe zivilisatorische Standards im gemeinsamen Umgang, Verpflichtung zur wechselseitigen Zuweisung von Höchstrelevanz (vgl. Fuchs, 2014, S. 1) –, für den könnte dies eher eine abschreckende Wirkung haben. Ungeachtet der persönlichen Vorlieben und Abneigungen entstehen aber vor allem strukturelle Probleme, wenn Wirtschaftsunternehmen sich als Gemeinschaft und/oder Familie verstehen und dies entsprechend nach innen wie außen kommunizieren.

Starke soziale Bindungen im Unternehmen aufzubauen, ist eine Folgewirkung, wenn Unternehmen ihren Purpose aus der Selbstbeschreibung als Gemeinschaft und/oder Familien ableiten (vgl. Krügl, 2022, S. 255). Dies begünstigt die Entstehung von Kommunikationsschwierigkeiten (da mehr Kommunikation entsteht), „denn wo Mitarbeiter und Führungskräfte enge, persönliche Beziehungen zueinander pflegen, werde eben auch jeder Konflikt schnellpersönlich“ (Sommer, 2022, online). Außerdem nehmen private Netzwerke, Cliquen und Sympathien überhand (vgl. Sommer, 2022, online), denn – wie im vergangenen Kapitel erwähnt wurde – die Gleichbehandlung und Vollinklusion von Personen einschließlich der Höchstrelevanz ist in der Realität kaum umsetzbar. Vielmehr ist davon auszugehen, dass die Höchstrelevanz umgangen wird, indem sich Cliquen und Grüppchen bilden, die auf Sympathie basieren. Letztlich kann dies außerdem dazu führen, dass arbeitsrelevante Themen an Relevanz verlieren. Allerdings bietet die Förderung abteilungsübergreifender sozialer Bindungen im Unternehmen laut Sommer (2022, online) auch den Vorteil einer erleichterten flexiblen Zusammenarbeit bei Aufträgen und Projekten. Möglicherweise gelingt dies besser, wenn dabei auf die Nutzung der Familiensemantik verzichtet wird, da dies falsche Assoziationen weckt und strukturelle Probleme mit sich bringt, wie gezeigt wurde.

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4.2 Kündigung und Leistung

Ein zentrales Merkmal der Familienmitgliedschaft besteht in der prinzipiellen Unmöglichkeit ihrer Aufkündigung (vgl. Eppinger, 2021, online). Anders als ein Führerschein, eine Approbation, eine Ehe oder eine Mitgliedschaft im Sportverein bleibt die Zugehörigkeit zur Familie lebenslänglich bestehen. Anders dagegen die Mitgliedschaft im Unternehmen, sie kann beiderseits aufgekündigt werden. Beschreibt sich nun aber das Unternehmen als familiäre Gemeinschaft, so wird laut Fuchs (2008, S. 12) eine der Familie entlehnte Moral der Achtung/Missachtung eingeführt. Wer demnach aus dem familiären ‚Wir‘ ausschert, wird mindestens implizit mit moralischer Diskreditierung bestraft, an die sich die Exkommunikation anschließt (vgl. Fuchs, 2008, S. 12). Die Kündigung des Arbeitsvertrages wird auf diese Weise mit einer moralischen und sinnhaften Bedeutung aufgeladen, die weit über das hinausgeht, was es im ursprünglichen Sinne ist. Dies äußert sich beispielsweise in Empörung aufseiten des Unternehmens, da der betreffende Mitarbeitende die Familie im Stich lässt (vgl. Eppinger, 2021, online).

Zudem erschwert es die Übernahme der Familiensemantik Eppinger (2021, online) zufolge, überhaupt eine Trennung von Mitarbeitenden in Aussicht zu stellen. Das ‚Mitschleifen‘ eines unproduktiven oder nicht passenden Beschäftigten wirkt sich aber zweifellos negativ auf die Kollegschaft aus, sodass letztlich erhebliche Produktivitätseinbußen zu erwarten sind (vgl. Eppinger, 2021, online). Weiterführend werden Mitarbeitende geduldet, die nur geringe Leistungen erbringen oder die ein inakzeptables Verhalten an den Tag legen, da gemäß der Familiensemantik die Beziehung unaufkündbar ist, da sie auf bedingungsloser Liebe und Loyalität basiert (vgl. Eppinger, 2021, online; Schmidt, 2016, online). Weiterführend stellt sich die Frage nach möglichen Konsequenzen, die es aber – ungeachtet der familiären Gleichbehandlungserwartung – nicht geben kann. Somit ergeben sich mehrere, miteinander verflochtene Paradoxien, die unter Beibehaltung der Familiensemantik nicht auflösbar sind, sondern sich vielmehr immer weiter in ihrer Krisenhaftigkeit steigern.

Hinzu kommt, dass mit der Exklusion aus dem Unternehmen erhebliche psychische Belastungen einhergehen, schließlich hat jemand nicht einfach nur seinen Job gewechselt, sondern die ‚Familie‘ verlassen und somit letztlich infrage gestellt. Für Individuen kann dies eine Sinnkrise bedeuten, denn die durch die Zugehörigkeit zum Team bzw. zum Unternehmen entstandene soziale Identität existiert nach dem Ausscheiden nicht länger. Auch das übriggebliebene Team leidet an Identitätsproblemen, da nun ‚einer von ihnen‘ fehlt. Dies mag zugespitzt klingen, doch ist nur die logische Folge der Einführung der Familiensemantik ins Unternehmen.

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4.3 Konfliktniveau

Die unpersönliche Bürokratie ist eine Mär, denn aufgrund der hohen Kontaktdichte in Unternehmen beobachten sich Beschäftigte zwangsläufig sehr häufig, und zwar sowohl in formaler und funktionaler Hinsicht als auch in Bezug auf die Individualisierung, also die Abweichung von dieser Formalität und Funktionalität. Dies erklärt das Nebeneinander von formaler und informeller (‚Flurfunk‘) Kommunikation (vgl. Fuchs, 2014, S. 7). Beschreibt sich das Unternehmen nun aber selbst als Gemeinschaft und/oder Familie, so kann es passieren, dass die Grenzen zwischen informeller und formaler Kommunikation verwischen, schließlich ist die Kommunikation in Familien enthemmt (Kapitel 3) und es kann letztlich alles thematisiert werden. Was also unterscheidet die formale von der informellen Kommunikation noch, wenn das Unternehmen für die Beschäftigten zur Familie wird?

Geramanis (2014, S. 185) weist darauf hin, dass Gruppen in Organisationen eine Harmonieerwartung haben, das heißt, das Erleben von Individualität wird zugunsten der Konfliktvermeidung zurückgestellt. Weil aber die sozialen Beziehungen in Familien grundsätzlich ein hohes Konfliktpotenzial haben – spätestens vor dem Hintergrund der Gleichbehandlungserwartung –, stellt sich die Frage, ob durch die Aufnahme der Familiensemantik in Unternehmen nicht das Erregungs- und Konfliktniveau (künstlich) gesteigert werden. Für Schmidt (2016, online) besteht die Überlebensbedingung der Familie in ihrem emotionalen Zusammenhalt, wohingegen das Unternehmen ökonomisch rentabel sein muss, um zu überleben. Wenn sich aber das Unternehmen als Familie selbstbeschreibt, so reicht es nicht länger aus, lediglich ökonomisch rentabel zu sein und die Wettbewerbsfähigkeit aufrechtzuerhalten, sondern die Beschäftigten sollen oder müssen darüber hinaus emotional zusammenhalten. Dass dies im Falle der Kündigung nicht aufrechtzuerhalten ist, wurde bereits im vorangegangenen Kapitel ausgeführt. Ein Anstieg der Konfliktdichte ist somit unvermeidlich, denn es gibt sowohl positive als auch negative Emotionen und ein auf Emotionen basierender Zusammenhalt ist stets brüchig – sobald die Liebe verschwindet, erodiert das Fundament, sofern es keinen Ersatz gibt. Andererseits kann der emotionale Zusammenhalt auch ein Stück weit Stabilität herstellen. Denn durch das Beschwören von Einigkeit und (kurzfristiger) Verschmelzung entstehen laut Geramanis (2014, S. 185) längerfristige Stagnation und Langeweile. Die negative Folge davon ist fehlende Innovationskraft, denn Stagnation bedeutet mangelnde Kreativität und fehlende konstruktive Konflikte. Die Problematik besteht also darin, dass sich das Konflikthafte der Familiensemantik auf die informelle Kommunikation ausdehnt und zudem Aspekte wie die Gleichbehandlungserwartung neu auftauchen, die im Unternehmen nichts zu suchen haben. Im Zuge der überbordenden Privatheit (vgl. Fuchs, 2014, S. 7) beziehen sich dann Konflikte nicht länger auf Arbeitsaufgaben.

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5. Chancen und Risiken für Mitarbeitende aus psychodynamischer Perspektive

Die psychodynamische Perspektive berücksichtigt in besonderem Maße die Interaktionen und Kommunikation zwischen allen beteiligten Personen, wobei das Unbewusste eine besondere Rolle spielt (vgl. Heltzel, 2021, S. 32; Lewkovicz & Neukorn, 2019, S. 14). Unangenehme oder unannehmbare Impulse resultieren daher aus einer Vielzahl an bewussten und unbewussten Impulsen, was zu irrationalen Prozessen führen kann, wenn Vorgänge, Themen, historische Ereignisse oder geheime Regeln (zum Beispiel aus der Unternehmenskultur) konfliktbelastet sind (vgl. Lohmer, 2006, S. 21).

Im Hinblick auf die Selbstbeschreibung eines Unternehmens als Gemeinschaft und/oder Familie bedeutet dies, dass Mitarbeitende ihre persönlichen Erfahrungen und Erlebnisse in der Familie in den beruflichen Alltag hineintragen. Die Gefahr besteht hierbei darin, dass negative Erlebnisse mit den Geschehnissen im Unternehmen verflochten werden, ohne dass dies den Betroffenen bewusst ist. Vorgesetzte als Eltern zu sehen, die Kollegschaft als Geschwister usw. bewirkt Rollenverschiebungen, denn die Rolle einer Mutter oder eines Vaters in der Familie unterscheidet sich maßgeblich von der eines Vorgesetzten. Hasenheit (2018, online) verweist darauf, dass die Beziehungen zwischen Eltern, Kindern und Großeltern zwar komplexe soziale Bindungen darstellen, dass diese sich aber keinesfalls auf ebenbürtiger Ebene abspielen. Auch vor dem Hintergrund der in Kapitel 3 bereits genannten unterschiedlichen Merkmale von Unternehmen und Familien entstehen im Unternehmen zwangsläufig mindestens Ambiguitäten, wenn nicht gar Unklarheiten, die bis hin zur Orientierungslosigkeit reichen können, sofern im Unternehmen die auf Hierarchie beruhende Weisungsbefugnis durch familienähnliche Strukturen außer Kraft gesetzt wird.

Von Vorteil für Mitarbeitende kann das Fürsorgeversprechen sein, welches sich aus der Selbstbeschreibung des Unternehmens als Gemeinschaft und/oder Familie ergibt. Hierbei ist es wichtig, dass es nicht zu einer Verschmelzung der beruflichen Rolle mit dem Privaten kommt und dass das Informelle zunimmt. Fürsorge ist hier vielmehr als handfeste Verbindlichkeit zu verstehen im Sinne einer Arbeitsplatzgarantie und eines Füreinander-Daseins auch in kritischen Lebensphasen. Somit werden Mitarbeitende in erster Linie als Menschen und nicht als Ressource wahrgenommen. Begleitet werden muss dies von einer Führung, die Mitarbeitende hinsichtlich ihrer Bedürfnisse ernst nimmt und sie bei der persönlichen Weiterentwicklung unterstützt (vgl. Sommer, 2018, online).

Das Menschliche im ‚Personal‘ zu sehen, ist Ausgangspunkt der Psychodynamik (vgl. Lewkovicz & Neukorn, 2019, S. 14). Weil, wie in Kapitel 3 festgestellt wurde, die Familie ihre Mitglieder als Vollperson berücksichtigt, ergibt sich diesbezüglich aus der Anwendung der Familiensemantik der Vorteil, dass Unzufriedenheit, unerfüllte Bedürfnisse und dergleichen möglicherweise besser wahrgenommen werden. Schließlich wird in der Familie aufgrund der vorherrschenden enthemmten Kommunikation prinzipiell alles thematisiert (Kapitel 3), was für Unternehmen den Vorteil bietet, auch unbewusste Prozesse sowie das Unausgesprochene zu thematisieren. Schließlich ist Schweigen ebenso Kommunikation – nur muss sie auch als solche wahrgenommen werden.

Das Risiko hierbei besteht laut Fuchs (2014, S. 4-5) aber darin, dass im Zuge der enthemmten Kommunikation eine Einschreibung des Gesagten ins Systemgedächtnis erfolgt, wodurch es bei Gelegenheit erinnert werden kann. Diese Erinnerungen können sowohl positiv als auch negativ sein, in jedem Fall aber sind sie dauerhaft abrufbar. Angetrunkene Kolleginnen und Kollegen bei Weihnachts- und Betriebsfeiern sind ein anschauliches Beispiel für das kollektive Betriebsgedächtnis. Wie in Kapitel 3 deutlich wurde, haben Emotionen in der Familie eine hohe Relevanz für die gesamte Kommunikation. Laut Haubl (2011, S. 205) ist die Bandbreite an Emotionen zudem in Organisationen relevant, was sich in Form von institutionellen Praktiken niederschlägt, um diejenigen Emotionen der Mitglieder zu reduzieren, welche schädlich sind und um diejenigen zu fördern, welche nützlich sein könnten. Heutzutage werden Emotionen in Organisationen als wichtige Ressource angesehen, was sich sowohl in Möglichkeiten der Steigerung der Arbeitszufriedenheit (zum Beispiel über Lob) als auch mittels Neidstimulation (durch leistungs- und positionsabhängige Bezahlung) oder Angstmacherei (durch befristete oder prekäre Arbeitsverhältnisse) zeigt (vgl. Haubl, 2011, S. 205). Wie bereits in Abschnitt 4.1 beschrieben wurde, können Unternehmen bewusst die Familiensemantik nutzen, um positive Emotionen zu evozieren. Dies birgt Chancen und Risiken zugleich und ist – wie bereits erwähnt – zum einen von der individuellen Familienvorstellung abhängig. Zum anderen birgt das Spiel mit Emotionen – gerade im Kontext von Gemeinschaft und/oder Familie – die Gefahr der Unkontrollierbarkeit. Denn Emotionen treten individuell verschieden auf: Was der eine zum Lachen findet, ist für die andere tieftraurig. Vor allem im Hinblick auf das Vorhandensein von unbewussten Prozessen besteht hier die große Gefahr der Eskalation, sofern Emotionen zu stark losgelöst von den Arbeitsaufgaben provoziert und thematisiert werden.

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6. Fazit

In dieser Arbeit wurde untersucht, welche Auswirkungen es hat, wenn sich Unternehmen als Familie und/oder Gemeinschaft selbstbeschreiben. Es wurde aufgezeigt, dass die zentrale Problematik darin besteht, dass sich Familie und Unternehmen konstitutiv voneinander unterscheiden, da sie auf der Basis ganz eigentümlicher Systemlogiken operieren. Dies bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass sich für Unternehmen aus der Selbstbeschreibung als Familie und/oder Gemeinschaft nur Nachteile und Risiken ergeben. Hierbei kommt es ein Stück weit darauf an, in welchem Ausmaß die Familiensemantik überstrapaziert wird, das heißt, ob die Kommunikationslogik der Familie vollständig importiert wird oder ob lediglich ausgewählte Aspekte wie die Fürsorge adaptiert werden. Letzteres bietet die Chance, einer Überlastung der Organisation durch zu viel ‚arbeitsfremde‘, informelle Kommunikation vorzubeugen und gleichzeitig die Zufriedenheit der Mitarbeitenden zu steigern.

Letztlich muss aber seitens der Wissenschaft viel stärker auf die Risiken und Nebenwirkungen eingegangen werden, welche sich aus der Selbstbeschreibung von Unternehmen als Familie bzw. Gemeinschaft ergeben. Zu häufig wird der Familienbegriff unreflektiert gebraucht, ohne sich über die zwangsläufigen strukturellen Konsequenzen Gedanken zu machen. Dementsprechend müssen sich aber auch Unternehmen viel stärker bewusst machen, was es bedeutet, die eigene Organisation als Familie zu bezeichnen – und was daraus für den Umgang mit den Mitarbeitenden folgt.

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Literaturverzeichnis

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