Einfluss der Biografie auf Führungskompetenz und Führungsverhalten – Nature und Nurture – Gedanken zum Coaching für Führungskräfte
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Führung und Führungsverhalten
- Entwicklung und Lernen in Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter
- Diskussion
- Conclusio
- Folgen für das Coaching von Führungskräften
1. Einleitung
Das Zusammenspiel von Nature und Nurture, also dem gemeinsamen Wirken von angeborenen bzw. vererbten Eigenschaften, Ressourcen sowie Fähigkeiten auf der einen Seite und entwicklungsprägenden Umwelteinflüssen auf der anderen Seite, beschäftigt naturwissenschaftliche Diskurse seit der Antike. Die Frage danach, ob wir als menschliche Individuen das Ergebnis unserer DNA oder unserer Sozialisation und Erziehung sind, konnte mit dem Fortschritt insbesondere im Bereich der biologischen und sozialwissenschaftlichen Forschung zumindest in die Nähe einer Antwort geführt werden: Das komplexe Zusammenspiel einer Vielzahl längst nicht abschließend ergründeter Faktoren macht den Menschen zu dem, was er ist (Powledge, 2011; Plomin, 2019).
Die Unschärfe, die diese wenig konkrete Antwort mit sich bringt, bzw. die Folgefragen, die damit nicht beantwortet werden können, werden insbesondere bei konkreten, praktischen Anwendungen der Nature-vs-Nurture-Debatte offenbar. Im Rahmen der vorliegenden Ausarbeitung wird dieser praktische Kontext im Bereich der Führungskräfteforschung verortet, in der sich, sowohl aus wissenschaftlicher Perspektive als auch praxisbezogen, die Frage stellt, wie eine Führungskraft eigentlich zur (idealerweise guten) Führungskraft wird – und zwar nicht aus faktisch-organisationaler Perspektive, sondern im Hinblick auf deren Prägung, Ressourcen, Einflüsse und biografische Rahmenbedingungen. Basierend auf diesen Überlegungen wird im Rahmen der vorliegenden Ausarbeitung die folgende forschungsleitende Fragestellung formuliert:
Inwiefern beeinflusst die Biografie von Führungskräften deren Führungs-verhalten und Führungskompetenz?
Um zur Beantwortung der Forschungsfrage zu gelangen, müssen zwei zentrale thematische Säulen berücksichtigt werden, die sich aus der skizzierten Problemstellung ergeben: Auf der einen Seite stehen der Begriff der Führung sowie das damit einhergehende Führungsverhalten und die Frage, welche Kompetenzen und Persönlichkeitseigenschaften das Individuum zu einer Führungskraft machen.
Auf der anderen Seite stehen Entwicklung, Lernen und Sozialisation als Prozesse, die die menschliche Biografie von Beginn an begleiten und die Persönlichkeit des Individuums vom Lebensanfang über Kindheit und Jugend sowie Berufsleben bis ins hohe Alter und ans Lebensende beeinflussen und formen.
Auf Basis der systematischen Durchsicht bestehender Forschungserkenntnisse werden beide thematischen Teilbereiche im Nachfolgenden erschlossen und schließlich im Rahmen einer Diskussion zusammengeführt, um begründete Schlussfolgerungen zur Beantwortung der Forschungsfrage ableiten zu können.
2. Führung und Führungsverhalten
Die knappe und überblicksartige Beschäftigung mit dem Phänomen der Führung steht konzeptionell vor der Herausforderung, dass Zuständigkeits- und Tätigkeitsprofile von Führungskräften vielfältig ausgestaltet sein können. Sie reichen von Vorgesetzten in Zwei-Personen-Unternehmen bis zum Topmanagement in international agierenden Großkonzernen. Auch wenn der Führungsbegriff insbesondere in der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung allgegenwärtig ist, entzieht er sich einer abschließenden oder gar eindimensionalen Definition. Um eine Arbeitsdefinition ableiten zu können, sei auf Bartölke und Grieger (2004) sowie Haslam et al. (2011) verwiesen, die konstatieren, dass Führung (1) auf einem formell begründeten Verhältnis der Über- und Unterordnung beruht, (2) nicht aber mit einem höheren Maß an Erfahrung oder Kompetenzen begründet sein muss. Sie ist (3) zielgerichtet, d. h., sie erfolgt nicht zum Selbstzweck, sondern um das Verhalten von Mitarbeitenden so zu lenken, dass es zur Erreichung der Unternehmensziele führt.
Die Vielfalt und Multiperspektivität, die bei der Beschäftigung mit dem Führungsbegriff angelegt werden müssen, wirken sich auch auf die Frage aus, welche Eigenschaften und Kompetenzen eine Führungskraft mitbringen muss, um ihre Position erfolgreich zu besetzen. Dies gilt insbesondere, da Führung nicht im luftleeren Raum stattfindet, sondern sich den sich dynamisch wandelnden Bedingungen der Wirtschaftswelt anpassen muss, um ihre Daseinsberechtigung nicht zu verlieren (Sukstorf, 2021).
Generell finden Studien der letzten Jahrzehnte einen auf den sogenannten Big Five beruhenden Konsens dahingehend, dass Führungskräfte sich durch emotionale Stabilität, einen hohen Grad an Extraversion, hohe Werte im Bereich der sozialen Verträglichkeit, ein hohes Maß an Gewissenhaftigkeit sowie ausgeprägte Offenheit gegenüber Veränderungen auszeichnen (Hogan et al., 1994; Schieffer, 1998; Andersen, 2006; Hautala, 2006; Kaiser & Hogan, 2011; Johnstone & Manica, 2011; Langford et al., 2017; Baptiste, 2018; Simic et al., 2022).
Auch wenn diese Eingrenzung einer zur Leadership-Aufgabe passenden Persönlichkeit sicherlich im Einzelfall und angesichts der enormen Bandbreite des Führungsbegriffs zu konkretisieren und kritisch zu hinterfragen sein wird, hat die Forschung ein genaues Bild davon, wie eine gute Führungskraft ‚ist‘. Doch woher kommen diese Persönlichkeitseigenschaften und inwiefern muss sich das Individuum darauf verlassen, dass sie als Nurture-Aspekt schlicht vererbt worden sind (was Führungsstärke zur genetischen Glückssache machen würde)? Nachdem im nachfolgenden Kapitel ein Blick auf die Themenbereiche Entwicklung und Lernen in den verschiedenen Stadien des menschlichen Lebens gelegt wird, kann zu dieser Frage im Rahmen der Diskussion Stellung genommen werden.
3. Entwicklung und Lernen in Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter
Für eine fundierte Beschäftigung mit der Frage, wie Menschen in den unterschiedlichen Lebensphasen lernen und sich entwickeln, muss zunächst unterschieden werden, welche Bedeutungen mit den Begriffen Lernen und Entwicklung einhergehen. In einem alltäglichen Sprachgebrauch mögen diese nämlich beinahe schon synonym sein – sie sind jedoch in einer wissenschaftlichen Betrachtung klar voneinander zu unterscheiden, gleichermaßen jedoch in einem engen Zusammenhang miteinander stehen. So beschreibt das Lernen einen Prozess, bei dem das Individuum innerhalb eines Systems und einer Struktur absichtlich oder beiläufig Fähigkeiten, Wissensbestände und Kompetenzen erweitert (Kösel, 2007).
Auch wenn die Ergebnisse von Lernprozessen üblicherweise sichtbar sind, ist es das eigentliche Lernen nicht, denn es findet seinen Ausdruck in neurophysiologischen Veränderungen (Bednorz & Schutzer, 2002; Kösel, 2007; Ladenthin, 2007; Neumann et al., 2022).
Von einer Entwicklung ist hingegen dann die Rede, wenn gänzlich neue Strukturen und Systeme des Erlebens und Verhaltens erschlossen werden. Die physiologische und psychologische Seite der Entwicklung des Menschen stehen in einem engen Zusammenhang miteinander. Während die physiologische (Vorwärts-)Entwicklung des Menschen mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter abgeschlossen ist, gilt die psychologische Entwicklung heute als über die gesamte Lebensdauer veränderbar (Ahnert, 2014; Hurrelmann & Quenzel, 2016).
Sowohl für das Lernen als auch für die Entwicklung gilt dementsprechend, dass es sich um lebenslang ablaufende und teilweise bewusste, in Gang zu setzende Prozesse handelt. Ihre Ergebnisse entstehen in einem komplexen Geflecht aus externen und internen Einflussfaktoren, den eingebrachten und entnommenen Ressourcen sowie der Persönlichkeitsstruktur des Individuums, die jedoch ebenfalls wieder nicht auf eine singuläre Quelle zurückgeführt werden kann (Turner & Tsang, 2022; Huang et al., 2021).
4. Diskussion
In der Zusammenführung der beiden soeben eröffneten Themenbereiche kann nun diskutiert werden, inwiefern die Kompetenzen und Fähigkeiten sowie Persönlichkeitsmerkmale, die eine gute Führungskraft ausmachen, durch die Biografie des Individuums beeinflusst werden. Turner und Tsang (2022) verweisen darauf, dass die traditionelle Ansicht der sogenannten Great Man Theory, also die Überzeugung, dass man – Frauen wurden in dieser jahrhundertealten Idee noch nicht als Führungspersonen mitgedacht – zum Anführer geboren wird, mit gutem Recht mittlerweile als veraltet gilt und gänzlich verworfen werden muss. Führungskompetenzen werden überwiegend erlernt und nicht durch genetische Voraussetzungen erworben (Tschannen-Moran, 2023).
Die Biografie des Individuums spielt dabei insofern eine Rolle, als dass sie als Gesamtheit aller Eindrücke, Einflüsse und Ausgangsbedingungen verstanden werden kann, die das Individuum prägen. Ein wichtiges Stichwort dafür, ist etwa die Resilienz, die einen hohen Wert für Führungskräfte hat und deren Ausprägung maßgeblich durch biografische Vorerfahrungen beeinflusst wird, aber eben auch im Erwachsenenalter noch gezielt adressiert werden kann (Lombardi et al., 2021; Giustiniano et al, 2018).
Inwiefern die Führung von Mitarbeitern und Teams in einem professionellen Umfeld gelingt, ist sicherlich im Hinblick darauf abzuschätzen, ob das Individuum entsprechende Erfahrungen schon früher im Leben machen konnte oder ggf. sogar gezielt dahingehend geschult wird. Gemeint sind damit nicht (nur) spezifische Leadership-Coachings oder Trainings, sondern schon kindliche und sogar frühkindliche Erfahrungen, in denen Raum geschaffen wurde, um Resilienz gegenüber Misserfolgen aufzubauen, die faire Führung gegenüber anderen zu übernehmen und Erfolgserlebnisse sowie Selbstwirksamkeit zu erfahren (King & Rothstein, 2010; Giustiniano et al., 2020).
Die einleitend formulierte Forschungsfrage ‚Inwiefern beeinflusst die Biografie von Führungskräften deren Führungsverhalten und Führungskompetenz?‘ kann dementsprechend mit Blick auf die dargelegten Befunde wie folgt beantwortet werden: Es kann zweifelsohne angenommen werden, dass die biografischen Erfahrungen, zu denen schließlich auch die generellen Veranlagungen der Persönlichkeit gehören, die Potenziale eines Individuums, eine gute Führungskraft zu sein oder zu werden, maßgeblich beeinflusst.
Menschen sind stets die komplexe Summe ihrer Ausgangsvoraussetzungen und Erfahrungen – diese beeinflussen das Vermögen oder Nichtvermögen in jedem menschlichen Lebensbereich. Was biografische Entwicklungen und Ereignisse vor dem Hier und Jetzt jedoch keineswegs sind, sind Prädestinationen der Führungskompetenz. Für Menschen, die augenscheinlich nicht ‚zur Führungskraft geboren‘ sind, ergibt sich daraus die Chance der Selbstoptimierung und des stetigen Wachsens an etwaigen Herausforderungen.
Als zentrale Limitation für die inhaltliche Einordnung der vorliegenden Darstellung kann darauf verwiesen werden, dass Fragen des Kapitals im Sinne Bourdieus ausgeklammert wurden, für die Praxis aber von hoher Relevanz sind. Vollständig zu ignorieren, dass Menschen mit unterschiedlichen Ressourcenlagen in ökonomischer, sozialer und kultureller Hinsicht auf und in die Welt kommen und der damit verbundene Status den Lebenserfolg maßgeblich prägt, würde in nahezu zynischer Weise an der Realität vorbeigehen (Spillane et al., 2003; Eacott, 2015). Weitere Sozialisationstheorien bestätigen dies. Insbesondere die Chancen, in eine Führungsposition zu gelangen oder für eine solche in Betracht gezogen zu werden, wird durch die individuelle Kapitalsituation des Individuums beeinflusst, weniger jedoch durch dessen grundsätzliche Potenziale, eine gute Führungskraft zu werden (Connie, 2018).
5. Conclusio
Die Frage, ob Führungskräfte ‚geboren‘ werden oder ob jedes Individuum grundsätzlich in der Lage wäre, eine gute Führungskraft zu sein, beschäftigt sowohl Forschung als auch Praxis als ‚Klassiker‘ der Führungsforschung bereits seit längerem. Eine klare, eindimensionale und abschließende Antwort auf diese Frage ist schon dahingehend nicht abzuleiten, als dass nicht vollumfänglich geklärt werden kann, welche Fähigkeiten und Kompetenzen eine gute Führungskraft mitbringen muss. Dies lässt sich mit zweierlei Argumentationen begründen: Jede Führungssituation ist erstens unterschiedlich, sodass ein pauschaler Katalog an für die Führung notwendigen Eigenschaften der Komplexität der Praxis nicht ausreichend Rechnung trägt. Zweitens ändern sich die Ansprüche an Führungskräfte mit dynamischen Wandlungsprozessen in der Wirtschaftswelt, sodass gewonnene Ergebnisse regelmäßig auf Gültigkeit zu überprüfen sein werden.
Eine Tendenz zeichnet sich jedoch im Forschungsstand ab, und zwar ein Mittelweg aus ‚Nature‘ und ‚Nurture‘. Durchaus gibt es Menschen, deren Persönlichkeitsstruktur und Ressourcenlage es ihnen einfacher macht, zu einer guten Führungskraft zu reifen. Ein solcher Vorteil darf bei der Einschätzung der Gesamtsituation sicherlich nicht unberücksichtigt bleiben, darf jedoch nicht dazu verleiten, sich auf ebendiesem auszuruhen.
Denn gleichermaßen gibt es deutliche Hinweise darauf, dass auch Individuen mit einer weniger optimalen Ausgangslage Potenziale erkennen, nutzen und optimieren können, um den Anforderungen einer Führungsposition in hohem Maße gerecht werden zu können.
Die Verantwortung dafür, bestehende Potenziale zu erkennen und zu optimieren, aber eben auch etwaige Lücken zu identifizieren und zu schließen, liegt dabei sowohl bei der potenziellen Führungskraft in spe als auch beim Unternehmen, das im Rahmen des Personalmanagements durch ein solides Führungskräfte-Coaching einen zentralen Wettbewerbsvorteil erlangen kann.
6. Folgen für das Coaching von Führungskräften
Angesichts der soeben dargelegten Erkenntnisse und Schlussfolgerungen stellt sich im Weiteren die Frage, welche Folgen ebendiese für die Förderung und Weiterentwicklung von Führungskräften im Rahmen des Coachings haben können oder müssen. So kann zunächst im Hinblick auf die Notwendigkeit bzw. Sinnhaftigkeit von Coaching für Führungskräfte argumentiert werden, dass es letztlich keine Führungskraft gibt, für die ein solches Vorgehen nicht sinnvoll und ertragreich wäre. So kann selbst mit einer Überbetonung des Nature-Aspekts, bei der davon ausgegangen werden würde, dass Führungskompetenzen einem Individuum gewissermaßen in die Wiege gelegt wurden, eine Optimierung dieser ‚naturgegebenen‘ Stärken im Sinne eines Coachings erfolgen.
Die soeben aufgezeigten Ergebnisse und Forschungseinblicke deuten aber eben auch darauf hin, dass naturgegebene Persönlichkeitseigenschaften und -merkmale erstens nicht nur als nicht ausreichend für eine erfolgreiche Führungskräftelaufbahn gelten können, sondern zweitens auch nicht unbedingt vorhanden sein müssen. Denn auch Menschen, die einen solchen ‚Startvorteil‘ nicht haben, können in der Ausgestaltung ihrer Persönlichkeitsmerkmale und Fähigkeiten begleitet werden. Die skizzierte Nurture-Perspektive bezieht sich dementsprechend nicht nur auf die Erziehung und Sozialisation bis zum Eintritt ins Erwerbsleben, die also schwerpunktmäßig in Kindheit und Jugend stattfinden, sondern eröffnet auch Perspektiven für die weitere Förderung von (potenziellen) Führungskräften – und zwar ganz unabhängig von deren bisherigen Führungserfahrungen, den berufsbiografischen Voraussetzungen und ihrem Alter.
Für Akteure im Bereich des Führungskräfte-Coachings ergeben sich dabei die Aufgabe und Herausforderung, bestehende oder potenzielle Führungskräfte wertschätzend mit ihren Voraussetzungen als Individuen anzuerkennen und genau dort abzuholen, wo sie zu diesem Zeitpunkt stehen – um sie schließlich genau von diesem Punkt aus zu fördern, zu fordern und in ihrer Selbstoptimierung als Führungskraft zu begleiten.
Ein zentraler Ansatz für die Bewältigung dieser Aufgabe ist das Psychodynamische Coaching, das sich gerade dadurch auszeichnet, dass es die berufliche Gegenwart und Zukunft des Individuums mit dessen persönlicher (bzw. Persönlichkeits-)Entwicklung in einen Zusammenhang setzt. Statt eine ausschließliche Perspektive auf das (sicherlich wichtige, aber eben nicht aus dem Nichts entstandene) ‚Hier und Jetzt‘ einzunehmen, zielt das Psychodynamische Coaching darauf ab, die Entstehungsbedingungen und die Geschichte von Verhaltensweisen, Stärken und Schwächen im beruflichen Alltag in jegliches Coachinghandeln mit einzubeziehen. Psychodynamisches Coaching wendet sich damit gegen den Trend, ausschließlich auf eine Lösungsorientierung zu setzen, und erkennt stattdessen an, dass Menschen in ihren Verhaltensweisen, Werten, Überzeugungen, Kompetenzen und Eigenschaften die Summe diverser Einflussfaktoren sind, die nicht plötzlich im beruflichen Alltag einwirken, sondern von Geburt an auf das Individuum einwirken (Beumer, 2003).
Als nachteilig an diesem ganzheitlichen Vorgehen kann sicherlich angeführt werden, dass die Anamnese, die einem Coaching vorausgehen muss, deutlich umfassender und ressourcenintensiver ist als bei einem Ansatz, der die Vergangenheit des Individuums ausblendet und letztlich nur auf dessen Gegenwart und zukünftige Pläne fokussieren muss. Als zentraler Vorteil kann jedoch angeführt werden, dass das psychodynamische Coaching ein deutlich ganzheitlicheres Verständnis des Individuums erarbeitet, denn es geht davon aus, dass die aktuelle Position des Individuums im beruflichen Alltag sowie die damit einhergehenden Stärken und Schwächen, Potenziale und Herausforderungen nicht im Vakuum entstehen, sondern ihre Ursache in vergangenen Dynamiken haben (Neukom, 2013).
Die in der Ausarbeitung dargelegte und hergeleitete Schlussfolgerung, dass Führungshandeln und Führungskompetenzen das Ergebnis von Sozialisation und Erfahrungen (mindestens) ab dem Zeitpunkt der Geburt sind, ist dementsprechend für die psychodynamische Forschung als Legitimation und ganz zentrale Prämisse zu bewerten (Beumer, 2003). Gleichermaßen kann auf Psychodynamik beruhenden Coaching-Ansätzen jedoch auch negativ entgegengehalten werden, dass sie eine eher negative bzw. korrektur- und defizitfokussierte Perspektive auf das Individuum einnehmen.
Denn die Vergangenheit des Individuums wird als Ursache für die Entstehung von Angst bzw. Ängsten auf individuell-persönlicher sowie kollektiv-organisatorischer herangezogen, denn „[d]as psychodynamische Verstehen des Funktionierens von Gruppen und Organisationen dreht sich im Wesentlichen um das Auftreten und die Abwehr von Angst im Kontext (der systemischen Analyse) von Organisationsstruktur und -kultur“, so Neukom (2013, S. 57). Basierend auf den hergeleiteten Erkenntnissen könnte nun aber auch eine gegenteilige, deutlich positivere Perspektive eingenommen werden, indem die Erfahrungen und das Sozialisationserleben des Individuums als Treiber und Ansatzpunkte für Optimierung und Wachstums aufgegriffen werden.
Dementsprechend muss – zumindest mit Blick auf die psychodynamische Perspektive auf das Coaching – die Frage zwischen Nature und Nurture überhaupt nicht entschieden werden. Denn Psychodynamisches Coaching kann schlicht auf den gegebenen Ressourcen aufbauen, und zwar unabhängig davon, woher sie konkret stammen, um die gecoachten Führungskräfte zu einem souveränen Handeln zu empowern, das eine glaubwürdige, authentische Darstellung ihrer selbst ist.
Um dies zu erreichen, ist eine ganzheitliche Erschließung der Ressourcenlage und Persönlichkeitsstruktur unabdingbar, gleichzeitig aber auch nicht ausreichend. Denn das Psychodynamische Coaching setzt das Individuum im Rahmen eines Dreiecks- oder gar Viereckskontrakts in den Kontext der Organisation, die es führt oder innerhalb derer es führt (Möller & Giernalczyk, 2021). Letztlich schließt sich damit auch folgerichtig der Kreis, der mit der Debatte um angeborene vs. erworbene Führungseignung geöffnet wird: Denn auch die Führungskraft ist als Individuum nicht ‚fertig‘ und darf es auch nicht sein, sondern muss fortlaufend als dynamisches Ergebnis ihrer Einordnung in die (organisationale) Umwelt verstanden werden, deren Ausgestaltung es als Führungskraft wiederum maßgeblich mitbestimmt.
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